Samstag, 21. Dezember 2024

Winterschlaf

 

Winterlandschaft: Stell dir, wir Menschen würden Winterschlaf halten. Eine Kurzgeschichte über das große Schlafengehen.



Wind rüttelte am Fenster. Regen trommelte gegen die Scheibe, als würden Schwärme von Insekten immer wieder dagegen fliegen. Es war sieben Uhr morgens und stockdunkel. Die Nacht beschloss Überstunden zu machen.

Die Bettwärme betäubte meine Sinne. Ich schloss meine Augen und träumte gegen den Wind an. In meinem Traum taten wir Menschen es den Siebenschläfern gleich. Zum Ende des Sommers verlangsamte sich unser Stoffwechsel. Wir wurden immer müder und fielen in einen mehrmonatigen Winterschlaf.

Eisbaden, Daunenjacken, Feuerwerk, Hygge, Schneemänner, Heiligabend, Winteroffensiven, Vierschanzentournee, Hüttengaudi, Helene-Fischer-Weihnachtsshows, UGG-Boots, Sternensingen, Rodeln, Pelzmäntel, dicke Socken, Bundesligarückrundenstart, lange Unterhosen, Skiferien, Eiskratzen, Lebkuchen, Neujahrsansprachen, Black Fridays, Schneeballschlachten und Glühwein kannten wir nicht.

Wir lebten nur im Frühling und Sommer. In knapp sieben Monaten erledigten wir alles: Wir brachten die Kinder zur Welt, begruben unsere Liebsten, heirateten und trennten uns, bauten Häuser, eroberten Länder, gewannen oder verloren WMs, machten Abi, gründeten Firmen, ernteten Gemüse, schrieben Bücher oder sahen uns fremde Länder an.......

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Dienstag, 8. Oktober 2024

Messi

 

Hochhaus Kurzgeschichte über einen Sommer, der alles verändert. Wie einer kleiner Junge einem die Augen öffnet.



Gewitter geben diesen Hochhäusern ihre Würde zurück, dachte Franziska. Die Blätter beruhigten sich. Die Stadtstille löste sich auf. Nur das Wassertropfenglitzern auf der Fensterscheibe erinnerte an das Unwetter. Auf ihrem Balkon atmete sie den Sommerregenduft ein und schaute den Wolken bei ihrer Flucht zu.

Im Winter 1979 zog sie mit ihrem Ehemann in diesen Wohnblock in den zehnten Stock. Das Baustellenaroma kroch noch durch die Tapeten. Urbanität durch Dichte stand im Prospekt der Wohnungsbaugesellschaft. Ein Neubaukomplex für den die Stadt viele Schrebergärten geopfert hatte. Sie wollte immer eine Wohnung mit Atmosphäre. Einen Altbau mit Gipsblumen unter der Decke oder ein Reihenhaus mit einer Forsythien-Hecke. Das war ihre Vorstellung von einem Heim. Aber ihr Mann wollte in einem Hochhaus wohnen. Er hatte den Mietvertrag ohne ihr Wissen unterschrieben. Es war ihr egal. Sie war froh, dass sie nicht mehr bei seinen Eltern wohnen mussten.

Unten läuteten nervös die Kirchenglocken. Es war das Signal, sie musste sich anziehen. In den letzten Wochen hatte sie sich daran gewöhnt, die Vormittage im Schlafanzug zu vertrödeln. Sie schlüpfte in ihre Jeans und beobachtete sich im Spiegel. Ihre Sinnlichkeit nahm wieder Gestalt an, was sie selbst kaum bemerkte, weil sich ihre Blicke an ihren Haaren festhielten. Sie hatte aufgehört, ihre Haare zu färben. Am Mittelscheitel zeigte sich ein Silberstreifen, der ihre neue Lebensader war.........

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Montag, 12. August 2024

Staub vor der Sonne

 

Eine Short Story über Saharastaub in den Straßen von Berlin



Der Flieder blühte früh. Bleiche Beine suchten die Sonne. Vanilleeis tropfte vom Stiel. Warme Luft aus Afrika trieb den Winter aus der Stadt. Der April in Berlin begann in diesem Jahr mit einem Sommer. Mit der Wärme kam auch der Saharastaub. Ein Gemisch aus Mineralien und fossilen Algen. Ein totes Meer rieselte auf die Hauptstadt nieder und verschleierte die Sonne. Er wäre ein willkommener Dünger für einen Wald gewesen. Aber hier auf den Boulevards und Straßen war er nur Dreck. Der nächste Regen wird ihn in die Spree spülen.

Mehr als ein Dutzendmal im Jahr kommt der Staub aus der Sahara zu uns. Lässt Fensterscheiben matt werden. Pudert den Schnee, dass er aussieht wie Milchreis mit Zimt und Zucker. Über alle Kontinente verteilt er sich und wo er sich niederlässt, staunen die Menschen. Es waren Männer wie Kapitän Gutkese, die halfen, das Rätsel zu lösen. Der erfahrene Seemann, der in seinen jungen Jahren alle Weltmeere befahren hatte, war ganz in die Wissenschaft vernarrt. Für ihn ging es nur um Wahrheit und Wissen. Das Wort, das seine Haltung beschrieb, war Beständigkeit. Es war sein Lieblingswort. Wenn er einen Seemann zurechtwies, weil der seine Arbeit nicht gut machte, dann empfahl er ihm Beständigkeit. Es war das letzte Wort, das er seiner Frau zum Abschied ins Ohr flüsterte, als sie ihn fragte, wie er die langen Reisen aushält. Sie konnte nicht mehr antworten. Er riss sich los und ging an Bord. Kein Winken und kein Blick zurück. Beständigkeit war sein Lebenselixier......

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Donnerstag, 28. März 2024

Wie ich zum Leser wurde

 

Legasthenie: Wie aus einem funktionalen Analphabeten ein Leser wurde.




Ich unterbrach meine Frühstückslektüre und drehte das Radio lauter. Ein Interview mit der Kinderbuchautorin Kirsten Boie hatte meine Neugier geweckt. Auf Deutschlandfunk Kultur rief sie dazu auf, ihre Petition im Internet zu unterzeichnen, dass jedes Kind lesen lernen sollte. Tatsächlich gibt es Kinder, die nicht richtig lesen können. Laut Pisa Studie sind es 18,9 Prozent bei den Zehnjährigen. Es sind funktionale Analphabeten. Diese Kinder sind in der Lage Buchstaben und Wörter zu erkennen, aber sie verstehen nicht den Sinn von kompletten Sätzen oder Texten. Die Musik setzte wieder ein. Ich musste an die ersten Jahre meiner Schulzeit denken. Ich war auch so ein Kind: Ich konnte nicht richtig lesen und schreiben.

Wörter machten mir Angst, weil ich nichts verstand, selbst vor Buchstabensuppe fing ich mich an zu fürchten. Wenn ich in der Klasse mit Vorlesen dran war, dann kam ich mir vor, wie der Eingeborene Freitag aus dem Roman Robinson Crusoe, dem Robinson mit viel Mühe das Lesen beibringt. Genau wie Freitag stotterte ich mich unter großem Gelächter der Klasse durch die Zeilen. Meist gab ich nach den ersten Wörtern auf..........

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Donnerstag, 7. März 2024

Passdeutscher


Passdeutscher: Wenn du als Vater einen Chinesen hast und Deutscher werden willst



Januar 2024 – Freitagabend in der Hamburger Innenstadt. Es ist sehr ungemütlich. Das eisige Wetter lädt auch nicht zum Verweilen ein. Die wenigen Passanten wollen schnell nach Hause und ihren Feierabend genießen. Es weht von allen Seiten. Der Januarwind kann sich nicht entscheiden. Er ist aus jeder Richtung fies. Ich ziehe mich tief in meinem Mantel zurück. Es bringt nichts. Die Kälte kriecht durch alle Schichten Stoff.

Klar könnte ich mir auch etwas Besseres zum Wochenende vorstellen, als hier an einer Anti-AfD-Demo teilzunehmen. Aber es musste sein. Jetzt auf dem Sofa zu chillen und gemütlich eine Serie zu suchten, ist keine Option mehr für mich. Mit ein paar tausend Menschen teile ich meinen Zorn: Eine rechtsextreme Partei darf offen ihr Gift versprühen. Dafür schäme ich mich. Die Demonstranten werden laut, aber es bleibt friedlich, keiner schwenkt einen Galgen. Dass an den nächsten Wochenenden hunderttausende Menschen sich dem Protest gegen die AfD anschließen, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. 

Die Empörung ist groß in Deutschland, seit die Details über ein Geheimtreffen von AfD-Politikern und Rechtsradikalen in einem Hotel bei Potsdam bekannt geworden sind. Hier wurde ein Masterplan zur Remigration, also der Rückführung von Millionen Menschen mit einer Zuwanderungsbiografie, vorgestellt. Es würde mich und meine Geschwister, viele Freunde, Kollegen und Kolleginnen treffen. Nach den Vorstellungen der AfD müsste ich meine deutsche Staatsangehörigkeit zurückgeben. Ich wäre dann wieder staatenlos.......

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Dienstag, 6. Februar 2024

Trostsuppe

Essay über Erinnerung: Wenn Hühnersuppen Vergangenheitsweh auslösen.


Wenn ich Vergangenheitsweh bekomme, koche ich mir Hühnersuppe. Ich erinnere mich dann an das China-Restaurant meines Vaters, besonders an das rhythmische Tak-Tak-Tak, der Hackmesser und das sanfte Blubbern eines riesigen Suppentopfes, der das Zentrum der Küche war. Er war ein magischer Reaktor. Aus Hühnern, Gemüse und Wasser wurde köstliche Hühnerbrühe gebraut. Die Suppe wurde gepflegt und gehütet wie ein Schatz. Der Topf war immer heiß und musste immer wieder mit Suppenhühnern und Gemüse aufgefüllt werden.......


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Donnerstag, 1. Februar 2024

Willkommen bei Ponysülze

Du bist hier richtig, wenn du auf Kultur, Kunst, Literatur, Musik oder Film stehst. Dieser Blog ist eine Erweiterung vom Newsletter-Projekt Ponysülze. Ich freue mich, wenn du ab und zu vorbeischaust. Danke.

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